Nein, Paradies Nummer 4 finden Sie nicht in einem Reisekatalog, nicht bei der Sphinx- Suche oder dem Nahtoderlebnis. Paradies 4 ist der Wohnort von Paule und seiner ihn liebenden Frau Maria Magdalena.
Es liegt eingebettet im oststeirischen Hügelland, und obwohl versteckt und abseits der größeren Straßen, führen mehrere Wege dahin.
Zumeist benutzt wurde der Weg am Hieaner vorbei, dem Bauern oben am Hügel – ein ordentlicher Mensch, der einstmals in seinem Hühnerstall den Boden betonierte, dabei leider die Luke nicht schloss, durch die am Abend die Hühner einstiegen. Am nächsten Morgen – der Hieaner traute nicht seinen Augen – standen die Hühner noch immer im Stall, einzementiert, wie ein Nachbar mitfühlend lachend sagte.
Eine neue Herde wurde angeschafft. Doch als der Hahn, ein stattlicher Hahn, der keine Henne schonte, die betonierte Hühnerleiter sah und beunruhigt in den ordentlichen Stall schaute, traf ihn, so wird in der Küche bei Lindenblütentee erzählt, ein Schlagerl, von dem er sich nicht mehr erholte.
Der dritte Hahn war nicht so zart besaitet. Die Nachbarn sprachen gar von außergewöhnlich robust, wurde er doch von einem Hühnergeier vergewaltigt – andere sprachen, der Hahn wäre der Täter gewesen –, was den Hühnern insofern schadete, als er den gewöhnlichen Sex mit Hühnern von da an mied. So wurde zumindest beim Lindenblütentee erzählt, der – so ist es Brauch im Paradies – statt mit Wasser mit Schnaps aufgegossen wurde.
Beim Hieaner vorbei machte die kleine Straße eine Biegung. Hier lagen die Felder vom Praus, dem einstmals größten Bauern. Vom Großvater Praus sprach man gern: Der hatte ein Faible für Weiber und Küh’. Es soll einmal vorgekommen sein, dass er die Nachbartochter, die Grete, über den Melkschemel legte und dabei ausgerutscht sei. Auf jeden Fall habe dies Liesl, die Kuh, in Unruhe versetzt. Sie habe ihm dabei das ganze Gesicht vollgeschissen und ihn dann noch angebrunzt, sagte man mir.
Die Weiber kosteten mehr, als die Kühe hergaben. So wurde manch schöner Acker verkauft. Der Praus, der Enkel, erbte schon wenig; für ihn war die Landwirtschaft ohne Sinn, und er verdiente sein Geld in der Industrie, genauer gesagt in der Obstverwertung. Er hielt noch fünf Kühe nebenbei und versuchte gelegentlich, zumindest bei Dorffesten, seinem Großvater nachzueifern.
Das erboste seine kräftig gewachsene Frau, die Sieglinde, die ihm jedes Jahr Mitte bis Ende
September ein Kind schenkte, zumeist einen Buben, sodass man im Dorf schon davon sprach, zum nächsten Silvester in der Früh keine Böller zu schießen, um den Praus nicht aufzuwecken. Wer schläft, der macht keine Kinder. Denn einmal sei ja wirklich genug; was sollten denn die zwölf Kinder noch erben.
Bei einem schönen Fest, das an die Zeit erinnern sollte, als das Getreide noch mit der Sense gemäht und von den Frauen zu hübschen Garben-Mandeln aufgestellt wurde, habe Praus, der Enkel, so wird zumindest kolportiert, der feschen Friedel Avancen gemacht, die diese nicht unbedingt zurückgewiesen habe. Man sprach hinter vorgehaltener Hand, sie seien sogar für mehr als zehn Minuten verschwunden – aber niemand wisse Genaues. Sieglinde habe jedoch nur zum Schein die Ahnungslose gemimt, denn als sie früh gegen Morgen das Fest verließen, soll sie Praus zu Haus in ein Maischefass geworfen, den Deckel mit einem Reifen verschlossen und das Fass den langen Weg die Wiese hinabrollen lassen bis hinunter zum Bach, und erst gegen Mittag, nachdem sie ausgeschlafen hatte, den Armen aus seiner misslichen Lage befreit haben.
Zwischen Praus und dem Heinerl – der Weg in das Paradies führt immer bergab – standen alte Obstbäume auf einer grünen Wiese, jetzt im Juli in saftigem Laub. Im Frühjahr waren die Bäume voll mit Rot betupften Blüten, umsummt von Heinerls Bienen. Oft blieb man stehen, um zu schauen. Im Herbst jedoch hingen die Äste von Äpfeln schwer, mit roten Backen der Kronprinz Rudolf, gelb die Schafsnase und rot die Ilzer Rose.
Heinerl, sein schiefes Häuschen in eine Mulde geduckt, wohnte abseits der kleinen Straße; zum Glück, wie alle Dorfbewohner sagen, lag doch ausgesuchter Müll von Generationen auf seinem Hof herum. Suchst du eine Kloschüssel, so findest du sie beim Heinerl, der seine Notdurft immer noch im Bretterverschlag neben den Bienen ver‑
richtete, im Paradies „Scheißhäusel“ genannt, und zum Pinkeln den Nussbaum vor der Tür benutzte, dem nur noch auf einem Ast die Blätter wuchsen; die anderen streckte er mahnend in die Höh’.
Heinerl war inzwischen in Pension. Davor hatte er in den Tag hinein gelebt. Selbst die Hühner und die Ziegen waren ihm davon gelaufen. Seine einzige Erwerbsquelle waren die Bienen. Dies brachte ihn in Streit mit dem neunzigjährigen Veigt, dem ältesten Bewohner im Tal, der nicht weit weg von Maria Magdalena und Paule wohnte, etwas mehr als doppelte Rufweite entfernt, bei der Weggabelung rechts ins Hinterntal. Er führte ein eigenbrötlerisches Leben, seit damals, als sie seinen Bruder erschossen. Eine Kugel steckte noch immer im Holzrahmen der Eingangstür. Es waren keine Leute vom Dorf, wurde gesprochen; man wisse aber schon, wer es war! Aber allemal besser wäre es, man ließe die Sache auf sich beruhen. Veigts Bruder war ein „Kummerl“, ein „Roter“, ein „Kommunist“ gewesen, einer, der es gewagt hatte, bei einer Kundgebung der Braunhemden laut zu sagen: „Hier stinkt’s!“ Das war ihm nicht gut bekommen.
Dabei ist Veigts Bruder fast ein Poet gewesen, ein lyrischer Mensch allemal: „Die Engel können fliegen, weil sie sich leicht nehmen; ich kann fliegen, wenn ich sauf!“, hörte man ihn sagen. Als Veigt nach dem Krieg aus der Gefangenschaft nach Hause gekommen war, hatte nur noch die Mutter gelebt. Sein Vater war gefallen, der Bruder tot, niederträchtig ermordet an jenem Novembertag in der Früh, als der Tag sich in den dichten Nebel bohrte. „Ihr Dreckschweine!“, hatte man ihn noch schreien gehört. „Braune Scheiße!“ Dann knallte es mehrmals kurz und hart. Die Mutter war dann bald gestorben. Und Veigt igelte sich ein wie eine Kastanie mit spitzen Stacheln. Mit der Hand kamst du nicht an die Frucht.
Auch Veigt schleuderte den Honig aus den Waben und lebte der Bienen wegen im Streit mit Heinerl. Denn Veigt sprach mit seinen Bienen und sorgte sich hingebungsvoll um sie. Der Honig vom Veigt war eindeutig der Beste, während der Heinerl nur auf Profit aus war, den Honig streckte, seinen Bienen Zucker zusetzte und – was für Veigt das Schlimmste war – die Bienen mit Zuckerschnaps verwirrte, sodass diese in Veigts Bienenhaus eindrangen und die Völker bedrohten, ihnen sogar den Honig stahlen. Das ging eindeutig zu weit.
Vom Heinerl führte der Weg in einem breiten Schwung an einigen Birken und langgestreckten Wiesen vorbei, hinunter in das Tal. Einige Häuser standen dazwischen, neu gebaut, zu groß gebaut, verbaut! Garagen so groß wie Scheunen! Aber was wäre das Paradies ohne Stolpersteine!?
Eine Brücke führte über den kleinen Bach. Dort teilte sich das Sträßchen und führt links entlang der Weiden, dem Bachlauf folgend in ein weites Tal, in dem Schafe weideten und aus Äckern der Mais hoch wuchs, über Manneshaupt Höhe, in dem die Rehe sich versteckten, Hasen und Fasane hausten. Die Weizenfelder wogten reif in der Sonne, die Wiesen blühten von Wäldern eingefasst. Bussarde kreisten. Dieser Weg führte fast eben aus dem Paradies hinaus, machte noch einige Schleifen und endete dort, wo das Tal ausläuft, mit den Augen nicht zu verfolgen, beim Zubringer von der Autobahn.
Mitten in einer Lichtung, auf halber Höh’, steht ein Zuckerbäckerhäuschen – so schaut’s aus –, bunt wie ein Malkasten, die Fenster blau umrandet, die Wände gelb und rot, die Balken grün gestrichen, das Dach mit vielfarbig glasierten Ziegeln. Das ist das Reich von Glus, dem einzigen der Dorfbewohner, der die Welt bereiste, über drei Jahre, und dabei bis nach Tibet vordrang; von dort, von den Gompas, Chörten und Klöstern, kommt seine Vorliebe für kräftige Farben. Nachdem er allerdings anfing, auch die Stämme der umgebenden Bäume rot, blau und gelb anzumalen, tippten sich die Dorfbewohner an die Stirn und sagten, was es für ein Glück doch sei, dass nur einer der ihren sich in die Welt hinaus wagte.
Wenn man sich nach der Brücke rechts hielt, kam zuerst der Hof vom Nachbar Körbler, einem ernsthaften, hageren Mann mit grauen Schläfen, den das Schicksal hart angepackt hatte. Körblers Frau, die Else, setzte ihrem Leben kurz nach der Geburt ihrer dritten Tochter ein Ende. Es gab keinen Grund, es geschah nur einfach. Den Körbler, glaubt mir, den nahm das her.
Drei Töchter und keine Mutter! Ich weiß nicht, wie er es verkraftet.
Bei ihm saß ich oft und trank Lindenblütentee. Im Winter brannten wir Schnaps zusammen; drei Tage und zwei Nächte dauerte der Brand. Nach einem alten Gesetz aus Maria Theresias Zeiten durfte ein Landwirt den Schnaps frei brennen, ohne Zoll, sofern dies in einem Stück, ohne Unterbrechung, ablief. Maria Theresia kannte ihre Bauern! Manche hielten fünf Tage durch und gingen am letzten Tag zum Nachbarn, um sich Schnaps zu borgen, denn der Andrang der Besucher war recht groß, jeder wollte eine Kostprobe haben, und der Schnaps, der die Öffnung am Kühlfass verließ, rann nur spärlich.
Einmal waren der Körbler und ich völlig rauschig, da nahmen wir die eingelagerten Kartoffeln und schossen mit einem Luftdruckgewehr auf deren Mitte. Die Kartoffeln wurde später gekocht, die Kugeln steckten noch drinnen, weshalb dem Körbler vorne zwei Zähne fehlen.
Neben dem Körbler, durch eine leicht abfallende Wiese mit vier hohen Birnbäumen getrennt, liegt Paradies 4.
Früher stand hier ein Vierkanthof: Das Haupthaus mit Arkaden, Stall und Scheune schloss den inneren Hof ein, der zur Hälfte von einem Misthaufen angehäuft war, dem Dünger für die Felder. Gleich daneben befand sich der Brunnen; mit einem Schwengel pumpte man das Wasser herauf aus über zwölf Meter Tiefe. Früher, so wird beim Lindenblütentee berichtet, hatte ein jeder Magenzwicken, heute tritt das nicht mehr so häufig auf.Das Haupthaus stand noch, war jedoch mehreren Umbauten unterworfen, und bewahrte doch noch seine ursprüngliche Würde. Den Innenhof begrünte eine Wiese. Das ebene Stück zum Hang hin leckte ein kleiner Teich mit seiner Zunge. Die ehemaligen Stallgebäude und Scheunen hatten nicht überdauert, die Substanz war dahin. Statt derer stand im Kontrast zum alten Gemäuer verzinkter Stahl und Glas: das Atelier von Paule und Maria Magdalena, die zugereist, von außen kamen, aus „Deitschland“, wie die Dorfbewohner sagten.
Die Werkstatt unserer Freunde übernahm vom Grundriss nur das Geviert, ansonsten sprach es einen eigenen Dialekt. Aber das wurde wohlwollend toleriert, sahen die Dorfbewohner doch mehr in die Herzen.
Der Fremdheit zum Trotz hatte die Natur alles durchdrungen. Alte Obstbäume warfen ihre Schatten, durch den Nussbaum stahl sich die Sonne, Strahlen blitzten im Teich. Im Gemüsegarten blühten die Sommerblumen.
Ein kiesbedeckter Weg führte zum Eingangstor, das ein Kirschbaum bewachte, voll mit kleinen roten Früchten und Amseln, die sich gütlich taten. Davor blühten Margeriten und wilde Rosen kletterten empor.
Paradies 4, so spürten wir, war mehr, als nur dort wohnen.