Zunächst ging Paules Reise nach Coburg. Er hatte in Erfahrung gebracht, dass es dort Skelette zu kaufen gab, denn worauf lässt sich Alltäglichkeit besser reduzieren. Erstaunt stellte er fest, dass es sich bei dem Laden um eine hochmoderne Fabrik handelte – anders, als er es sich vorgestellt hatte. Er hatte einen vergammelten Schuppen in Friedhofsnähe mit einem unterirdischen Gang erwartet. Nein, diese Fabrik hatte Struktur und einen Pförtner.
„Was wollen sie? Ein Skelett? Ja was für eins? Einen Inder oder Kunststoff? Der Inder ist kleiner, aber echt, kostet dafür etwas mehr! Aber die Farbe kriegt man im Kunststoff nicht so hin. Außerdem hat der ja mal gelebt, das kann einem schon ein paar Mark wert sein!“
Paule entschied sich für einen groß gewachsenen Inder, packte das Gerippe auf den Rücksitz seines Opel Kadett und fuhr zur Grenze nach Österreich.
„Haben sie was zu verzollen?“
Paule deutete mit dem Daumen nach hinten.
„Haben sie dafür einen Leichenausfuhrschein und ein ärztliches Attest, dass die Leich’ auch wirklich tot ist?“
Paule verneinte.
„Was glauben sie denn, so einfach geht das bei uns nicht. Wir haben auch unsere Vorschriften. Fahren sie mal rechts ran! Sie wollen uns wohl verarschen, Sie…! Verarschen können wir uns selber, viel besser als Sie! Die Leich’ ist beschlagnahmt!“
Foto: Klaus Ziegler
Paule gab zu verstehen, dass es sich im vorliegenden Fall um keine „Leich“, sondern um das Relikt menschlicher Existenz handle, das ehemals dazu diente, ein Haupt mit Würde zu tragen. Ja was denn sonst halte ihn, den Zöllner aufrecht! Ohne solche Leich’ würde er, der Zöllner, wie eine Schnecke kriechen und andere Fragen stellen, überhaupt andere Interessen wahrnehmen; er wolle sich hier nicht weiter auslassen und fügte dann noch Wörter an wie: Reduktion auf das Wesentliche und Kunst.
Der Zöllner nahm alles gelassen hin, aber das eine Wort hätte Paule lieber verschlucken, ja, in sich hineinwürgen sollen. Kunst, das war eindeutig zu viel!
Der Zöllner nahm eine andere Farbe an. Das Blut wich ihm aus den Adern, die Augen quollen aus ihren bleichen Höhlen, selbst die Nase machte bei dieser Inszenierung mit, fiel in sich zusammen und blähte sich dann auf, formte sich zu einer Skulptur, die Adi, die Kartoffel, vor Neid hätte erblassen lassen, zumal nun puterrot das Netzwerk seiner Adern die Oberfläche durchzog. Der Mund, kurz zuvor noch mit dem Ausdruck bemitleidender Überheblichkeit getarnt, schnalzte kurz auf, um dann die Lippen in sich zu saugen; dem folgte der kleine Schnauzer; die Wangen fielen ein, und es bildete sich ein Riesenkrater, der alles in sich sog. Einem Mahlstrom gleich verschwand die Knolle von Nase, die aufgerissenen starren Augen flutschten hinterher.
Paule wollte sich schon übergeben, da deckte die Kappe, dieses herrlich geformte feste Ding mit hartem Schirm, gnädig das Loch zu, es legte sich glatt an den Rand und hatte nicht einmal eine Delle.
Einige Tage blieb Paule in Suben, der Grenzstation und dem Schulungszentrum österreichischer Gastfreundschaft. Er lernte alle Finessen amtswaltender Kultur kennen und die bestand nicht nur aus Vorspeise, Hauptspeise und Nachtisch, keineswegs, da steckte alter Erfahrungsschatz eines Vielvölkerstaates dahinter, das war echte Haute Cuisine.
Er genoss diese Zeit.
„Ohne Grenzerfahrungen bist du nichts, da kannst du mit den Händen auf einer Starkstromleitung balancieren, du kannst im Urwald
Wanderdünen suchen, den Eskimos Eis verkaufen, es nützt dir nichts, es fehlt dir an Grenzerfahrung.“ Sagte Paule.
Schlussendlich wurde ihm die Leich’ überantwortet, mehrfach verplombt und mit dem stempelmarkenpflichtigen Bescheid versehen, sich selbst auf der für ihn zuständigen Bezirkshauptmannschaft amtsärztlich untersuchen zu lassen.
Zu Hause ging Paule ans Werk. Wie gewohnt nahm er Formen vom Gerippe, gipste die Knochen ab, stabilisierte das Rückgrat; den Totenkopf machte er mit links. Wie gesagt: Erfahrung prägt das Leben. […]