Mein Vater Klaus lebt in der Steiermark. Ihn habe ich Ende September besucht. Als ich um sein Haus ging, sah ich den Flieger, den er aufgebaut hatte, um an meine Geburt zu erinnern.
(siehe dazu den Eintrag vom 23.Juni 16 - Die Frühgeburt oder das Dasein als Flieger)
Der Flieger sah nicht gut aus. Die Jahreszeiten hatten ihre Spuren hinterlassen. Das Leder – zwar gegerbt – hatte Falten geworfen und spannte sich über das Traggerüst wie eine alte Haut über gichtige Finger. Trotzdem hing über allem eine feierliche Stimmung, eine Ruhe, verbunden mit einer Würde, die man im Gedenken andere Menschen empfindet, die einem nahe sind.
Foto: Branko Lenart ©
Um das Empfinden zu steigern schaute die Sonne kurz aus den Wolken hervor und warf einen Lichtkegel auf das Kunstwerk. Ich wusste Abschied zu nehmen und der Abschied war verbunden mit Schönheit und Schmerz, der Freude am Dasein und der Gewissheit des Vergehens.
Ich erinnerte mich an die Zeit als kleines Kind. Stolz hatte damals Klaus seinen Flieger präsentiert, den er nach heiligen Ellen bemaß. Und er sprach zu mir: „21 Ellen. Dies ist die Heiligkeit der Heiligkeiten.“
Ich habe 525 cm Länge gemessen. Auf einer runden mit Leder bespannten Scheibe lag ein mit keramischer Haut bedecktes Skelett, ein der Schwerkraft anheim gegebenes Wesen. War es der Flugzeugführer oder war es der Passagier, das konnte ich nicht erkennen. Es war wie eine Szene aus einer Traumsequenz. Als würde der Passagier oder der Flieger weit entrückt schlafen, entstand jene Stille in der Beobachtung, die sich immer dann einstellt, wenn der Grenzbereich des Wahrnehmbaren überschritten wird.
Wie ein Frosch lag das Wesen auf dem gegerbten Leder in der Schlafhaltung eines Frühgeborenen, der keine Flugangst kannte.
Und da sah ich meinen Vater, der in sich ruhend auf der Tragfläche lag.
Foto: Klaus Ziegler ©
Später erzählte ich meinem Vater wie eindringlich die Sonne das alte gegerbte Leder beleuchtete. Und so fragte ich:
„Vater, was ist geschehen? Was ist mit der Heiligkeit der Heiligkeiten geschehen? Warum lässt du deinen Flieger verkommen?“
„Nichts ist für die Ewigkeit gemacht.“ Sagte Klaus. „Das Kunstwerk ist im besten Fall eine Momentaufnahme, die im richtigen Licht alles offenbart. So wie du jetzt etwas erlebt hast, hat vielleicht ein anderer etwas anderes erlebt. Es hat bei ihm etwas entzündet. Das ist das Wesen der Kunst: eine Idee zu übertragen an den anderen. Ich habe meine Idee in die Welt gestellt, somit ist meine Arbeit getan. Es ist nicht Aufgabe der Kunst in der Vorhalle eines Kunstsammlers zu verstauben, der nach einiger Zeit - der neuen Tapete wegen - ein poppigeres Ausstellungsstück hinstellt. Ich hatte - einfach gesagt - nicht den Platz, den Flieger in einer Kiste zu lagern; so überließ ich das Werk der Natur. Die hat nun ihre Arbeit gemacht: Adieu, du Heiligkeit der Heiligkeiten, adieu!.
„Ghimel“, sagte mein Vater, „du bist doch nicht von gestern, - eigentlich weißt du Bescheid:
Kunst ist verderblich!“