Der Hundert-Euro-Schein – Ein Weihnachtsmärchen

 

 

„Ein Riesenfehler“, sagte der Ökonom Joseph Stiglitz, „Griechenland aus der Eurozone zu drängen.“ Er bringt es dann auf den Punkt und benennt die angeblichen Rettungspläne als schlichte Rezessionsprogramme, die jeglichen Aufschwung im Keim ersticken. Er selber würde das Hilfsprogramm unter keinen Umständen unterschreiben.

Dies notierte ich am 2. Juli 2015, als die Eurozone wegen der mangelnden Bereitschaft der Griechen, ihre Zahlungsverpflichtungen einzuhalten, in Aufruhr geraten war.

Womit wir bei der philosophischen Frage des unnützen Leidens angelangt sind. Nur wenn es uns gelingt, das nutzlose Leiden abzustreifen, kommen wir zum nützlichen Teil des Leidens. Man muss zunächst kapieren, dass eine Grundbedingung der Freiheit eines Volkes  -und damit verbunden eines jeden Bürgers - darin besteht, nutzloses und nützliches Leiden zu unterscheiden.

„Ob ein Referendum darüber Auskunft gibt, mag zweifelhaft sein“, schrieb ich damals am 2.Juli 2015, der ein Donnerstag war. „Aber egal wie es ausgeht: die Griechen werden uns belehren, dass Leiden zum guten Teil dazu beiträgt, unser Leben in eine neue Richtung zu weisen. „Denn so wie gehabt geht es nicht weiter“, schrieb ich an jenem Donnerstag, der hohe Sommertemperaturen erreichte, die zwei Tage später 35 Grad überstiegen.

Das notierte ich damals  und ich schrieb in der Früh, als es noch nicht so heiß war, dass es so wie gehabt nicht weitergehe, und die Erfüllungsgehilfen des Kapitals und anderer unsauberer Gesellschaften sollten und könnten den Griechen schlicht und einfach die Wahrheit sagen: „Eure Schulden von 300 Milliarden Euro oder mehr sind in Wirklichkeit nur 15 Milliarden wert, denn der Euro in der Realwirtschaft, somit in Wirklichkeit, ist nur mehr 5 Cent wert.“

Das Geldwesen, das muss ich gestehen, ist für mich eine literarische Baustelle von Dauer und eine Baustelle mit Leidensdruck. Wer den Film Hinterholz 8 von Roland Düringer gesehen hat, weiß, was ich mit dieser Baustelle meine: ein Desaster... und obwohl das Haus keinen Keller hat, ist sie voll mit Leichen...

Das ist für mich die EZB: die Europäische Zeit-Bombe, wie ich das Institut nenne. Die verantwortlichen Herren der EZB fluten seit geraumer Zeit die Tresore der Banken und vernichten das Lebenswerk manch solider Menschen, die gutgläubig der Dinge harren, die auf sie einstürzen werden.

Aber lassen wir das; heute ist heiliger Abend, der 24. Dezember 2016 und das chinesische Jahr des Affen geht seinem Ausgang zu .

Ein Freund von mir, der Karl, kam auf Besuch. Er kam jedes Jahr am 24. Dezember nachmittags vorbei, denn er liebte das Weihnachtsgebäck meiner Mutter. Die Vanillekipferln hatten es ihm angetan und die Zimtsterne, die dieses Jahr das Gestirn im All verdrängten. Karl, das muss der Leser wissen, ist ein Künstler. Der Sinn des Leidens, von dem ich anfangs schrieb, hat ihn in die EZB geführt. Dort ist er zuständig für die grafische Gestaltung des Geldscheins und eigentlich fühlt er sich dort gut aufgehoben. Zumindest kam er die letzten Jahre zufrieden daher; er lachte sogar zuweilen, was er in unserer gemeinsamen Akademiezeit selten tat. Damals war er ernst und hiterfragte alles.

Doch heute, am heiligen Abend, schien er mir gedrückt zu sein. Die Augen lagen in tiefen Höhlen. Die Wangen hingen wie nasse Reissäcke auf dem unteren Kieferknochen. Senkrechte Falten spalteten die Stirn. Seine einst kraftvolle Stimme stockte mitten im Wort. Er stammelte:  „ein frohes Weihnachtsfest.“

„Karl“, fragte ich, „was ist mit dir?“

„Ghimel“, sagte Karl, „ich unterliege der Schweigepflicht, ich darf darüber nicht sprechen. Die Welt des Drucks und der Farben ist in eine neue Phase eingetreten. Wir drucken nicht mehr mit Druckerfarben sondern mit Nanodots; das sind winzige Roboter mit integrierten Funktionen wie Farbe, Reliefstruktur und – das ist schrecklich – mit Speicher- und Befehlsstrukturen. Jeder Geldschein ist mit einem Erkennungscode ausgestattet, der jederzeit und überall geortet werden kann. Ich will dir etwas zeigen.“

Er holte seine Geldbörse aus der rechten inneren Jackentasche, denn Karl war Linkshänder, wie es viele Grafiker sind, die einen Geldschein zeichnen konnten, der allgemein als echtes Zahlungsmittel akzeptiert worden wäre.

Er gab mir die 100 Euro und ich prüfte den grün bedruckten - etwas zerknitterten -  Schein.

Auf der Vorderseite mit dem Portal in missglücktem Barock und missverstandenem Rokoko, das von zwei griesgrämigen Fitnesstypen ohne Unterleib bewacht wurde, das jedoch das Eingangstor in eine ferne unbekannte Zukunft zu sein schien, stand für alle Sprachen Europas  in abgekürzter Buchstabenreihe verständlich gemacht: BCE ECB EZB EKT EKP.

Die Rückseite versuchte Europa als geographische Landmasse darzustellen, über der eine Brücke im Wasser sich spiegelte, die Europa mit Amerika verband. Amerika befand sich jedoch außerhalb des Zahlungsmittels. Rechts oben und links unten war der Schein nummeriert, denn es ginge ja nicht an, das Zahlungsmittel unnummeriert in Umlauf zu bringen. S16195125004 war zu lesen und klein gedruckt stand unter der Zahlenreihe : Ablaufdatum: 24. Dezember 2016.

„Karl“, sagte ich. „Das ist neu, ein Hunderter mit Ablaufdatum. Das ist genial! Das Geld ist morgen nicht mehr gültig. Was machst du mit dem Schein?“

„Ghimel“, sagte Karl. „Den Schein schenke ich dir. Der Schein ist das, was er sagt: ich bin ein Schein und morgen bin ich wirklich kein Schein mehr, sondern Wirklichkeit. Und wenn es auch scheinbar noch wirklich ist, scheint es nur so, denn das Institut, für das ich arbeite, will  scheinbar die Wirklichkeit allen Bürgern Europas sichtbar machen, dass der Schein nur dann wirklich zu sein scheint, wenn es keinen Schein gäbe; was jedoch dem Bürger gegenüber unehrlich wäre. Denn wirklich ist der Schein nur, wenn die Bürger dem Schein glauben, wirklich zu sein, was jedoch wirklich nicht ist und auch niemals war. Die Phase der Aufklärung ist eingeleitet. Aber wie schon gesagt unterliege ich der Schweigepflicht.“

Wir blickten stumm hinauf in den Himmel. Wolkenbrocken hingen in der Luft. Die Sonne hatte die Horizontlinie durchbrochen und warf ihre Strahlen von unten auf die langsam dahin gleitenden Massen und tauchte diese in ein  kräftiges Rot mit schwarzen Konturen, die im Kontrast zum hellen Blau des Himmelgewölbes zart an meiner Gefühlsharfe zupfte.

In diesem Moment des gegenseitigen Schweigens und Schauens bemerkte ich, dass der 100 Euro-Schein sich ebenfalls von grün beginnend in ein helles Rot verfärbte, das immer mehr verblasste und alle Farben verlor. Die 100 über dem Eingangstor verschwand und die 100 EURO links unten zerbröselte in kleine Zimtsterne, die leider nicht essbar waren und auch das Gestirn im All nicht verdrängten.  Das  Portal im barocken Rokoko mit den griesgrämigen Fitnesstypen ohne Unterleib fiel in sich zusammen. Nur das schlicht umrahmte Eingangstor weit hinter dem Arkadengang strahle in hellstem Licht und wies in eine aufgeklärte Zukunft, in der das Geld wirklich nichts mehr wert ist und  Liebe und  Freundschaft und das Mitgefühl die Werte sind, mit der man seine Schuld beglich.

Einen schöneren heiligen Abend hatte ich mir nicht erträumt. Ich fiel Karl um den Hals und dankte ihm für das schönste Geschenk, das er mir jemals machte. Und Karl fing wieder an zu lächeln. Die nassen Säcke hoben sich und zwei Tränen kullerten über seine runden Wangen. „Ghimel“, sagte er, „so hab ich das bisher nicht gesehen. Du hast ja Recht, das ist genial. Ein Geldschein mit Ablaufdatum ist die Lösung aller Probleme.“